Praktiken und ihre Körper. Was für ein Artefakt ist der Leib?

Mainzer Symposium der Sozial- und Kulturwissenschaften, 25.-27. April 2013

Der Körper gilt gemeinhin als Forschungsterritorium der Naturwissenschaften. Gleichwohl haben die Kultur- und Sozialwissenschaften gegenüber dem biomedizinischen Wissen zwei grundlegende Einsichten über den Körper geltend machen können. Zum einen haben anthropologische und phänomenologische Ansätze den bewohnten menschlichen Körper in seiner Binnenperspektive exploriert: als leibliches Fundament allen Erkennens und als elementaren Lokus von sinnlicher Wahrnehmung, von Personalität und Subjektivität. Zum anderen haben ethnologische und historisch-semantische Untersuchungen ihn als höchst variablen Gegenstand von Wissensordnungen entdeckt. Die Körper des Menschen bilden einen unendlichen Plural von kulturellen Klassifikationen und historischen Diskursen – ein Konvolut aus sprachlichen Kate­gorien, medizintechnischen Bildern, Deutungs- und Erklärungsmustern. Unser naturwissenschaftliches Wissen über den Körper ist Teil einer historisch und kulturell spezifischen Ethnosemantik.
Die Tagung will den Körper nun auf eine dritte Weise kulturwissenschaftlich betrachten: als Teil materieller Kultur. In jüngerer Zeit drückt sich diese Perspektive oft im Begriff der Praktiken aus – einer Konzeption menschlichen Handelns und Verhaltens, die die kontrollierte Körperbewegung ins Zentrum stellt. Als Teil materieller Kultur ist der Körper zweifellos ein Artefakt. Er ist begrenzt tauglich, wird durch Ernährung, Medizin und Sozialisation praktisch geformt und verschleißt im praktischen Gebrauch. Er ist aber auch ein besonderes Ding: Er kann lernen, d.h. er wird im Gebrauch materiell umgeformt, diszipliniert und habituell geprägt, und er lässt sich in Körpertechniken spezialisieren: Man denke nur an Instrumentalmusik, Handwerk, Sportarten, Kampfformen und Sex.
Als Teil materieller Kultur ist der Körper aber noch auf andere Weise spezifisch: Er ist das elementare und auch im Zeitalter technisierter Telekommunikation unvermeidliche Medium kommunikativer Praktiken. Das gilt für seine alltägliche Nutzung in der sprachlichen Kommunikation – für das Sprechen und Hören, Lesen und Schreiben – und für die gar nicht zu stoppende Prozessierung visueller Zeichen in Gestik, Mimik und Kleidung, mit der Körper laufend kulturelle Differenzen (etwa von Geschlecht, Ethnizität oder Status) darstellen. Es gilt ferner in professionalisierten kulturellen Praktiken – etwa in Pantomime, Schauspiel und Tanz – und es gilt auch für die spezifischen Verschaltungen disziplinierter Körper mit den Artefakten der Telekommunikation.
Die Tagung soll Beiträge unterschiedlicher Disziplinen (darunter Soziologie und Geschichtswissenschaft, Ethnologie und Medialitätsforschung) zusammenführen, um der Beantwortung grundlegender Fragen einer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf den Körper näher zu kommen. Was für ein Artefakt ist der Leib? Wie viele Körper hat ein Mensch? Mit welchen Sprachen, Bildern und Praktiken werden in Vormoderne, Moderne und Postmoderne welche Körper entworfen? Welches kommunikationstechnische Potenzial haben Körper? Wie ist die körperliche Seite leiblicher Wahrnehmungen und ‚geistiger’ Tätigkeiten? Welche Variationen verlangen Grenzkörper: versehrte, tierische, tote, embryonisch unentwickelte und technisierte (Cyborgs)? Ferner stellen sich den Kultur- und Sozialwissenschaften eine Reihe methodischer Herausforderungen: Wie kann man so ein stummes Objekt empirisch dingfest machen? In welchen Zeichensystemen bietet es sich dar: Sprechen Körper eine ‚Sprache’? Welchen Zugang haben wir zu kulturell fremden und historisch vergangenen Körpern? Welche Beschreibungssprache mag sich unabhängig von der biomedizinischen Ethnosemantik entwickeln lassen? Und schließlich: Wie gehen wir mit der eigentümlichen Befangenheit angesichts dieses Dinges zwischen Haar- und Fußspitzen um, dessen Kopfvorderseiten wir uns auf Tagungen zeigen?

Keynote Speakers sind Chris Shilling (University of Kent), Annemarie Mol (Universität Amsterdam), Thomas Alkemeyer (Universität Oldenburg), Gesa Lindemann (Oldenburg) und Martin Dinges (Universität Mannheim).

Programm und Anmeldung zur Tagung ab dem 1. Februar 2013 auf der Tagungshomepage unter: http://www.symposium2013.socum.uni-mainz.de/

Veranstalter der Tagung sind das Zentrum für Sozial- und Kulturwissenschaften Mainz (SOCUM) und der Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Universität Mainz.

Tagungsorganisation: Stefan Hirschauer (Soziologie), Matthias Krings (Ethnologie), Jörg Rogge (Geschichtswissenschaft)